Kurze Geschichten über Künstliche Intelligenz - Ausgabe #001
von Danny-Michael Busch

Ähnliches, allzu Ähnliches

In einem Projekt, das ich mitgestalten durfte, konnte ein messbarer Profit mit einem einfachen Grundprinzip der KI-Technologie gehoben werden, das in Summe in der Umsetzung nicht mal die Hälfte vom Profit des ersten Jahres gekostet hat. Wie ist das möglich gewesen? Möglich war das deshalb, weil ein KI-Enthusiast eine Geschichte erzählen konnte, in der ein Leitgedanke der KI Anwendung fand. Die Geschichte wäre auch gänzlich ohne KI erzählbar. Es ging in erster Linie ja darum, ein geschäftliches Problem zu lösen. Mit den richtigen Intuitionen gelingt es, auch ohne Ingenieurswissen »Geschichten über Künstliche Intelligenz« zu erzählen.

Kommen wir also ohne große Umschweife zur ersten Intuition: Eine Künstliche Intelligenz ist in bester Weise dazu in der Lage, Ähnliches zu Ähnlichem zu ordnen. Wenn man so will ist KI eine Sortiermaschine, die verschiedene Dinge unserer anschaulichen Welt so aneinanderreiht, dass sich diese Aneinanderreihung mit unserer menschlichen Wahrnehmung oft verblüffend gut deckt.


Ähnlichkeiten helfen, Probleme zu lösen.

Wir Menschen arbeiten erschreckend häufig mit Ähnlichkeiten in der echten Welt. Douglas R. Hofstadter, Autor des berühmten Buches »Gödel, Escher, Bach« und des 2014 in deutscher Übersetzung erschienenen Werkes »Die Analogie: Das Herz des Denkens«, vermutet hinter der Fähigkeit des menschlichen Geistes, Analogien zu bilden, gar den eigentlichen »Treibstoff des Denkens und Lernens«1. Achten Sie einmal darauf, wie oft wir in unserem Alltag im Grunde genommen wie von selbst nur Schablone auf Schablone legen. (Anm. d. Autors: Das Werk »Die Analogie« eignet sich prima, falls Sie Einschlafschwierigkeiten haben. Tausend Seiten Variation eines einzigen Themas).

Geschichten wie diese kennen Sie bestimmt:

  • Ein:e Vertriebsagent:in ärgert sich mal wieder über den Einkauf, weil nicht genug von dem aktuellen Top-Seller auf Lager ist, aber findet auch eine kreative Lösung: mit ein paar Handgriffen wird nach einem ähnlichen Produkt gesucht, das die Bedürfnisse des Kunden nach aller Wahrscheinlichkeit ebenso befriedigen dürfte - was immer noch besser ist, als mit ganz leeren Händen dazustehen. Hier wird Ähnlichkeit zum Verkaufstreiber (und ein:e Datenwissenschaftler:in würde wohl ergänzen: da der Einkauf keine belastbare Prognose über den Bedarf über das gesamte Sortiment bekommt, wird die Fehlbelagerung fortbestehen).
  • Ein:e nächtliche:r Spaziergänger:in entdeckt einen Menschen, der nervös auf und ab zu gehen scheint und sich immerzu verdächtig umsieht, auf dass er ja nicht beobachtet werden würde. Der oder dem Spaziergänger:in kommt dieses auffallend unähnliche Verhalten im Vergleich zu einem normalen Verhalten doch äußerst seltsam vor: und tatsächlich, kurze Zeit später holt der nervöse Mensch ein Brecheisen aus seinem Rucksack: Adrenalin wird ausgeschüttet, höchste Zeit, Alarm zu schlagen.
  • Ein:e Anwält:in hat einen komplizierten Fall, auf den vermutlich ein recht junges Gesetz anzuwenden wäre, und sucht nach Präzedenzen: mit einer reinen Schlagwortsuche in der Falldatenbank geht es nicht voran. Und fragt also befreundete Anwält:innen, ob sie schon mal von einem ähnlichen Fall gehört hätten.


Die gleichen Geschichten lassen sich auch mit KI erzählen, hier ein paar Beispiele aus realen Anwendungsfällen:

  • Ein Ernteroboter fährt durch das Gewächshaus und sucht nach reifen Tomaten. Es hat nicht wirklich gelernt, was eine reife Tomate ist, aber es hat gelernt, dass reife Tomaten gut sind und dass es ähnliche rote Tomaten ernten soll. Vom sonnengereiften Geschmack kriegt es nichts mit.
  • Eine Empfehlungsmaschine im Internet sucht im Lager nach verfügbaren Produkten, die so ähnlich sind wie das Produkt auf meiner Wunschliste, das leider ausverkauft ist. Dabei nimmt die Empfehlungsmaschine sowohl die visuelle Erscheinung als auch andere Merkmale der Produkte in Betracht. Warum mir das trotzdem gefällt, ist der Empfehlungsmaschine eigentlich egal. Aber ich klicke auf »Jetzt bestellen«.
  • Eine KI-gestützte Qualitätssicherung in einem Produktionsprozess prüft fortwährend mit Hilfe von Bildinformationen die Qualität der hergestellten Einzelteile: sobald etwas nicht mehr ähnlich genug dem gewünschten Ergebnis ist, ertönt ein Alarmsignal am Leitstand.

Überall im Alltag begegnen uns also Verwandschaften, Ähnlichkeiten und vergleichbare Ordnungskriterien unserer Anschauung. Das konnten Digitalisierungsprojekte schon immer heben: mit dem Unterschied, dass die KI als zusätzliche Ebene den Möglichkeitsraum deutlich erweitertet hat dahingehend, auf welchen Daten wir Ähnlichkeit definieren können.

Wenn Sie das nächste Mal eine Geschichte erzählen, in der es um Ähnlichkeit geht, denken Sie daran, dass sie diese mit einem menschlichen Akteur genauso erzählen könnten wie mit einer oder einem künstlich intelligente:n Kolleg:in.

Die geeignete Umwelt für KI

Ähnlichkeiten waren einmal die Stärke von uns Menschen. Mittlerweile haben uns die Maschinen bei der Suche nach ähnlichen Dingen in vielen Umgebungen eingeholt, wenn nicht überholt. Das heisst noch lange nicht, dass damit das Ende der menschlichen Arbeit eingeläutet ist.

Im Grunde genommen ist das Vorgehen der KI:

  • Ich katalogisiere alle bekannten Fälle (Lernen aus Daten)
  • Ich nehme einen neuen Fall auf (Sense)
  • Ich ziehe aus dem Katalog eine passende Lösung (Categorise) oder
  • Ich analysiere die Wahrnehmung auf kausale Zusammenhänge (Analyze)
  • Ich erzeuge eine Ausgabe (Response)

Wie können wir diesen Wirkmechanismus auf Szenarien in unserer Umwelt projizieren? Hierzu kann uns das Cynefin Framework als Modell dienen.

Cynefin

Das Cynefin Framework wurde im Kontext von Wissensmanagement und Organisationsstrategie von Mary E. Boone und Dave Snowden entwickelt2. In diesem Framework gibt es vier prägende Umwelten:

  • Clear (oder auch »Simple« bzw. »Obvious«) - die einfache Umwelt, in der wir eindeutig Wirkung und Ursache erkennen können und mit einer bewährten Praktik lösen. Das Vorgehen ist Sense-Categorize-Respond (Wahrnehmen-Kategorisieren-Antworten)
  • Complicated - hier ist analytische Erfahrung notwendig, um den Wirkmechanismus in seine einzelnen kausalen Bestandteile zu zerlegen. Wir kommen auf valide, gute Praktiken, die das Problem lösen: wobei es schon mehrere Wege nach Rom gibt. Das Vorgehen ist Sense-Analyze-Respond (Wahrnehmen-Analysieren-Antworten)
  • Complex - das Verhalten der Umwelt und die darunter liegenden Wirkmechanismen sind im Vorfeld unbekannt (und mit etwas Glück im Nachhinein ersichtlich). Erst ein Experiment mit der Umwelt gibt uns die Chance, etwas über das komplexe Verhalten zu lernen und uns entsprechend zu verhalten. Wir haben emergente Praktiken, die im Wechsel mit der Umwelt entstehen. Das Vorgehen ist Probe-Sense-Respond (Experimentieren-Wahrnehmen-Antworten)
  • Chaotic - Ursache und Wirkung sind in Gänze unbekannt, und es bleibt keine Zeit, darauf zu warten, bis die Wirkungskräfte klar sind: wie am Anfang der Corona-Pandemie, als schnelles Handeln gefragt war. Hier helfen nur Praktiken, die uns bisher unbekannt waren, wie bspw. der Lockdown. Chaotische Umgebungen bringen uns zu innovativen Praktiken. Das Vorgehen ist Act-Sense-Respond (Handeln-Wahrnehmen-Antworten)

Wenn wir uns anschauen, wie Umwelten und Praktiken in diesem Modell zusammenkommen, wird uns Sense - Categorise - Respond (Wahrnehmen - Kategorisieren - Antworten) als typisches Vorgehen in simplen Umwelten empfohlen. Das Schema Wahrnehmen-Kategorisieren-Antworten ist gerade der Prozess, den wir mit einer KI abbilden, wenn wir diese als reinen Ähnlichkeitsautomaten einsetzen: die beste Praxis in eindeutig zuordnenbaren Fällen auswählen. Eine schnelle Kategorisierung des jeweiligen Falles, der natürlich auch etwas komplizierter sein darf, ist die große Stärke von KI.

Auch in den Bereich Sense-Analyze-Respond ist die KI schon vorgedrungen. Wenn wir bei diesem Bild bleiben, so kann KI kausale Beziehungen aus komplizierten Umwelten erlernen. Das vertiefen wir aber ein anderes Mal, um nicht die hier erzählte Intuition über »Ähnlichkeiten« zu verwässern.

Für dynamische und komplexere Umwelten müssen wir nochmal in den Ideenkoffer der KI abtauchen, das aber ist eine andere Geschichte für einen anderen Tag und wird in der kommenden Ausgabe #002 der »Kurze Geschichten über Künstlichen Intelligenz« erzählt.


Fazit

Wenn wir die KI nun als Ähnlichkeitsmaschine einsetzen, geht es also nicht darum, menschliche Arbeit zu ersetzen: menschliche Fähigkeiten müssen in komplexer oder chaotischer Umwelt nach wie vor klar führend sein. Befreien von anspruchsvollen, mitunter ermüdenden aber letztendlich stupiden Aufgaben sollten wir Menschen schon. Das gibt Raum für kreativere Tätigkeiten.

Was neu ist mit den modernen Methoden der KI, ist, dass der Ähnlichkeitsbegriff ausgedehnt wurde auf Wahrnehmungen, die früher nur ein Mensch leisten konnte: bspw. im Bereich der visuellen Wahrnehmung und in der Verarbeitung von natürlicher Sprache. Die KI hat uns die Komplexität dieser Domänen reduziert, wir können heute eine ganze Schar von Problemen mit KI lösen, die mit klassischen Programmiertätigkeiten unlösbar gewesen wären. Auch unabhängig von Bild und Text kann eine KI viel mehr Datenpunkte gleichzeitig überblicken, als ein Mensch dazu in der Lage wäre.

Wo in Ihrem Unternehmen gibt es Aufgaben, bei denen Sense-Categorise-Respond zum Einsatz kommt?
Welche Geschichte zur KI können Sie unter dem Begriff »Ähnlichkeit« erzählen?

 
Fußnoten

[1] »Die Analogie - Das Herz des Denkens«
von Douglas Hofstadter und Emmanuel Sander.
Auf deutsch erschienen bei Klett Cotta 2014.
ISBN: 978-3-608-94619-2

[2] Wikipedia Artikel zu Cynefin Framework